Christliches Friedensengagement angesichts eines Krieges in der Ukraine – wie soll das gehen?

Ein Beitrag von Annemarie Müller, langjährige Friedensreferentin im ÖIZ vom 14.03.22

„White Dove Against Blue Sky“ by knowhimonline is
marked with CC BY-NC-SA 2.0., keine Änderungen vorgenommen

Ich muss es ehrlich zugeben: all meine pazifistischen Gedanken sind mit dem militärischen Angriff Putins auf die Ukraine in Frage gestellt worden. Nein, ich konnte es mir bis zum letzten Moment nicht vorstellen, dass die russische Armee wirklich die Ukraine überfällt. Ja, ich habe mich getäuscht, wie viele andere auch, was ein wenig tröstet. Den Opfern des Krieges hilft das aber wenig. Und von diesen her sollten wir jetzt denken.

Was brauchen die Bürger der Ukraine im Moment?

Ein Ende der Kampfhandlungen. Die Möglichkeit einer Rückkehr in ihre Wohnungen, ihr alltägliches Leben im Frieden.

Wie es scheint, wird dies mit diplomatischen Mitteln nicht erreicht. Alle bisherigen Verhandlungen seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 zeigten wenig bis keinen Erfolg. Es scheint so, dass beide Seiten das Gefühl haben, von der anderen Seite nicht ernst genommen zu werden, nicht aufeinander zu gehen zu können, ohne das Gesicht zu verlieren. Nicht einmal beim Aushandeln von kurzfristigen Sicherheitskorridoren für Zivilisten scheint es zu klappen, siehe Mariupol. Und die politischen Gespräche mit Putin vor dem Krieg haben gezeigt: da herrscht ein Machtmensch, der das eine sagt und genau das Gegenteil tut. Diplomatie bringt im Augenblick kein Ende der militärischen Gewalt. Diese Erkenntnis ist für eine Friedensengagierte schwer zu ertragen.

Vielleicht können die Kirchen vermitteln?

Auch auf die Kirchen kann jetzt nicht gehofft werden. Alle Bemühungen, z.B. von Seiten des Ökumenischen Rates der Kirchen, von dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill eine klare Stellungnahme zum Krieg zu bekommen, sind fehlgeschlagen. Patriarch Kyrill müsste dazu eine Kehrtwende um 180 Grad vollführen. Bereits 2007 in Sibiu, bei der 3. Europäisch-Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, beklagte er den moralischen Verfall durch westliche Einflüsse. Um sich dagegen wehren zu können, setzte sich seine Kirche schon nach dem Zerfall der Sowjetunion für den Erhalt und die Weiterentwicklung der atomaren Waffen in Russland ein. Zur geistlichen Untermauerung erklärte die russisch-orthodoxe Kirche 2007 Seraphim von Saratow (1759-1833) zum Schutzheiligen der Atomstreitkräfte. Diese Verflochtenheit der Kirche mit der Armee und Regierung konnte ich selbst bei einem Besuch 2019 in Moskau erleben. In der wieder erbauten Christ-Erlöser-Kathedrale, die als Hauptkirche für die russischen Streitkräfte gilt, wurden russische Rekruten feierlich für ihren Dienst in der Armee gesegnet.

Die Theologin Regina Elsner vom Institut für Osteuropa und internationale Studien Berlin (ZOiS) meint, das Narrativ der Verteidigung gegen die allgegenwärtige Gefahr vom Westen lasse keinen Raum für Dialog oder gar Selbstkritik bei Patriarch Kyrill zu (ZoiS 7/2022). Orthodoxe Kirchenvertreter anderer Nationen sind meist auch nicht klarer in ihren Aussagen. Der serbisch-orthodoxe Patriarch ruft seine Gläubigen wenigstens zu Spenden und Gebeten für die Ukraine auf. Mehr nicht. Eine Kritik an dem Krieg hört man nicht.

Fazit: Auch auf kirchliche Diplomatie kann im Moment nicht gehofft werden.

Ist christliche Friedensarbeit deshalb an ihrem Endpunkt angekommen?

Dem möchte ich widersprechen. Im Moment müssen wir an die Opfer denken und es aushalten, dass Putin nur die Sprache der Gewalt versteht. Ja, auch damit sind Friedensengagierte nicht mehr frei von Schuld am Tod von Menschen. Gewalt bringt keine Lösung des Konfliktes, jedoch hoffentlich bald ein Ende der Kampfhandlungen. Und ich hoffe, dass die Ukraine als unabhängiger Staat dann noch nicht verschwunden ist.

Wenn die Waffen endlich schweigen, werden das Wissen, die Diplomatie und die Ausdauer von gewaltfreien Akteuren gebraucht. Erst da bestehen Chancen, über die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Konflikt zu reden, ihn von allen Seiten miteinander zu betrachten. Eventuell kann es so zu einer Annäherung ohne einseitige Schuldzuweisung kommen.

Krieg hinterlässt schreckliche Folgen bei allen Beteiligten: für Ukrainer und Russen, aber auch weltweit. Wenn die Waffen endlich schweigen, brauchen die Ukrainer Hilfe beim Aufbau der zerstörten Infrastruktur, bei der Überwindung sozialer und kultureller Missstände, für ein friedliches Miteinander. Hass, Feindbilder und Gewalt, die sich in Kriegszeiten schnell ausbreiten, müssen in der Gesellschaft überwunden werden. Da ist viel Friedensarbeit nötig und internationale Hilfe wird gebraucht. Aus den Erfahrungen zurückliegender kriegerischer Auseinandersetzung, etwa auf dem Balkan in den 1990er Jahren, ist bekannt, dass Hass nicht einfach verschwindet, sondern zu passendem Zeitpunkt erneut zum Ausbruch von Gewalt führen kann. Dem Abhilfe zu schaffen, braucht internationale Friedensarbeit.

Aber sollen wir solange einfach zusehen, können wir gar nichts tun?

Dass konventioneller Krieg in dieser Brutalität heute in Europa wieder möglich ist, konnte sich kaum einer vorstellen. Hatten wir doch gedacht, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Mauer leben wir im „Paradies“. Alle Gründe für militärische Auseinandersetzungen seien überwunden. In einer Zeit globaler wirtschaftlicher Verflochtenheit wäre die NATO überflüssig. Die Aussetzung der Wehrpflicht wie die Reduzierung deutschen Militärs fanden wir logisch.

Schon in den 1990er Jahren bei den Kriegen auf dem Balkan – mitten in Europa – musste ich meine pazifistische Haltung kritisch hinterfragen. Mit militärischer Kraft wurde dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens entgegen gewirkt. Eine Selbständigkeit einzelner Ethnien sollte unterdrückt werden. Der Serbe Slobodan Milosvic setzte nationalistische Ideologie ein, um sein Kriegshandeln zu rechtfertigen. Serbien wollte als Großmacht über die anderen Völker bestimmen. Um dies zu erreichen, mussten Menschen gegen ihren Willen kämpfen, starben oder wurden vertrieben. Bis heute sind die Folgen zu spüren. Der kleinste Anlass kann diesen Kriegsgeist erneut wach rufen.

Bei meinen Besuchen auf dem Balkan wurde mir schnell bewusst: im Krieg hört zuerst der Verstand auf. Hass und Feindbilder gewinnen die Oberhand. Sie richten sich plötzlich gegen Menschen, die der „falschen“ Ethnie angehören oder die „falsche“ Sprache sprechen.

Diese Erlebnisse aus dem Balkan machen mich heute und hier wach. Ich möchte, dass sich bei uns in Deutschland keine Feindbilder bilden oder verfestigen. Das ist kein Krieg des russischen Volkes, sondern von Putin und seiner Regierung angeordnet. „Die Russen“ sind nicht unsere Feinde, auch nicht die bei uns lebenden. Sie haben sich in unserer Gesellschaft integriert, betreiben Gaststätten oder Läden, sind Wissenschaftler und reden ihre russische Sprache. Wenn sie deshalb beschimpft oder ausgegrenzt werden, dürfen wir das nicht zulassen. Christliche Friedensarbeit hat den Menschen, der Gottes Ebenbild ist und unsere Solidarität braucht, im Blick. Sich gegen diese Feindbilder einzusetzen, ist angesichts des brutalen Kriegs zwar nur ein kleiner, aber wichtiger Beitrag.

Und keiner kann uns verwehren, die alte Tradition des Gebets zu Gott miteinander zu pflegen, für den Frieden, für die Menschen und auch für uns.

Von Annemarie Müller, bis 2017 Friedensreferentin im ÖIZ

Weiterhin aktuell ist der Beitrag von Dr. Martina Fischer, Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung bei Brot für die Welt, auf den wir hier ebenfalls verweisen, weil wir ihn für eine sehr gute Analyse halten. „Welche Wege führen aus der Eskalationsspirale?